Unfallversicherung auf dem Arbeitsweg und die innere Handlungstendenz auf dem Heimweg

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Unfallversicherungsschutz bei Arbeitsunfällen besteht kraft Gesetzes nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII für Beschäftigte. Dieser erstreckt sich gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 8 SGB VII auch auf Schüler, Studenten und Kindergartenkinder. Der Arbeits- und Heimweg ist mitversichert, wie sich aus § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII ergibt. Was jedoch gilt, wenn auf dem Heimweg noch ein kleiner Abstecher genommen wird, etwa um Geld abzuheben?

Oder nur kurz etwas einkaufen? Diese und ähnliche Fragen sind immer wieder Gegenstand von Gerichtsverfahren, die nicht selten bis in die höchste Instanz ausgefochten werden (müssen).

Die entscheidende Norm ist § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII, der zufolge „das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit“ versichert ist. Der Begriff „unmittelbarer Weg“ kennzeichnet nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts den durch Wertentscheidung zu bestimmenden inneren bzw. sachlichen Zusammenhang des unfallbringenden Weges mit der eigentlichen versicherten Tätigkeit. Ein solcher Zusammenhang bestehe wenn der Weg wesentlich zu dem Zweck zurückgelegt werde, den Ort der Tätigkeit zu erreichen oder nach Beendigung der Tätigkeit nach Hause zurückzukehren. Die darauf gerichtete Handlungstendenz des Versicherten müsse durch objektive Umstände bestätigt werden (BSG SozR 2200 § 539 Nr 119; SozR 1500 § 75 Nr 74; SozR 3-220 § 550 Nr. 4 und Nr 16, jeweils mwN; BSG Urteil vom 30. 10. 2007 – B 2 U 29/06 R).

Der Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit und somit der Versicherungsschutz entfalle, wenn der Weg aus eigenwirtschaftlichen Gründen unterbrochen werde (BSG aaO.). Entscheidend ist hier im Einzelfall nicht die Kürze der Unterbrechung oder des Umweges. Entscheidend ist die Änderung der Handlungstendenz weg vom Arbeits- bzw. Heimweg hin zu einer dem unversicherten privaten Bereich zuzurechnenden Verrichtung.

Daraus folgt, dass eine Zäsur oder eine Abweichung vom direkten Weg nicht als Unterbrechung im Rechtssinne zu werten ist, wenn sie keine in der Privatsphäre begründeten Ursachen hat, sondern weiterhin der Zurücklegung des versicherten Weges dienen soll. So bleibt der Versicherungsschutz beispielsweise erhalten, wenn der gewöhnliche Weg verlassen wird, um einen Stau oder eine Baustelle zu umfahren (BSG SozR 3-2700 § 8 Nr. 9 mwN.).

Ein Beispiel: Das Sozialgerichts Berlin beurteilte am 23. Januar 2013 (S 68 U 577/12) einen Fall, in welchem eine Arbeitnehmerin – die spätere Klägerin – auf dem Weg von einer Raucherpause, die außerhalb des Arbeitsgebäudes stattfand, verunfallte. In der Eingangshalle stieß sie mit dem Haushandwerker zusammen, welcher einen Eimer Wasser trug und diesen aufgrund des Zusammenpralls verkippte. Die Klägerin rutschte darauf aus und erlitt dabei einen Bruch der Speiche. Das Gericht entschied, die Klägerin habe sich nicht auf dem versicherten Arbeitsweg befunden. Denn der Weg sei zurückgelegt worden, weil die Klägerin dem Verlangen, rauchen zu wollen, zuvor nachgegangen war. Bei letzterem handele es sich um ein eigenwirtschaftliches und persönliches Interesse, welches dem unversicherten Bereich zuzuordnen sei. Irrelevant war in diesem Fall auch der Umstand, dass der Arbeitgeber Raucherpausen durch die Errichtung einer Raucherecke billigte und die Klägerin daher zwingend den Weg zu dieser außerhalb des Gebäudes liegenden Raucherecke machen musste.

In einem Urteil vom 30.10.2007 (B 2 U 29/06 R) hatte das Bundessozialgericht bestätigt, dass hinsichtlich der Grundsätze der inneren Handlungstendenz für Schüler und Jugendliche ein anderer, weniger strengerer Maßstab anzulegen sei. Der 8 jährige Junge war während der Bußfahrt mit Mitschülern ins Gespräch vertieft, so dass er die sonst üblich genommene, zur Familienwohnung nächstgelegene Haltestelle verpasste und zwei Stationen später ausstieg. Der Fußweg verlängerte sich dadurch um ca. 320 m. Auf diesem Weg stieß der Kläger mit einem Pkw zusammen, wodurch er einen Oberschenkelbruch und ein Schädelhirntrauma erlitt. Nach Auffassung des Versicherungsträgers habe die Verlängerung des Weges dazu geführt, dass sich der Kläger auf einem nicht versicherten Abweg befunden habe. Das Bundessozialgericht führte hingegen aus, Aktivitäten, die dem natürlichen Spiel- und Nachahmungstrieb oder dem Gruppenverhalten von Schulkindern entsprängen, würden vom Unfallversicherungsschutz erfasst, wenn sie in der jeweiligen Situation den üblichen Verhaltensweisen von Schülern des betreffenden Alters entsprächen. Das gelte auch für das Verhalten auf dem Schulweg. Nach dem Unterricht bestehe für Schüler ein natürliches Bedürfnis, sich zu bewegen, das typischerweise auch bei der anschließenden Heimfahrt im Schulbus noch andauere. Mehr oder weniger kontrollierte „Energieentladungen“ wie Raufen, Schubsen, auf die Sitze steigen, an den Stangen hangeln etc. seien im Schulbus typische Verhaltensweisen von Schülern insbesondere auf der Heimfahrt nach Schulende (BSG aaO. mit Hinweis auf Klaus Hilken, Eine kritische Bestandsaufnahme des Unfallgeschehens im Rahmen der gesetzlichen Schüler-Unfallversicherung, Dissertation 1981, S 304). Dies werde dadurch unterstrichen, dass sich auf dem Rückweg von der Schule bedeutend mehr Schülerunfälle im Zusammenhang mit der Benutzung eines Schulbusses ereignen als auf dem Hinweg (Hilken, aaO, S 298). Dabei neigen gerade jüngere Schüler dazu, sich von ihrem Vorhaben, nach Hause zu gelangen, ablenken zu lassen und an der falschen Bushaltestelle auszusteigen (Behrendt/Bigge, Unfallversicherung für Schüler und Studierende sowie für Kinder in Tageseinrichtungen, S 45; Doris Stecher, Die Unfallversicherung für Schüler, Studierende und Kindergärten im Recht der „sozialen Sicherheit“, Dissertation 1990, S 120). Das Verhalten des Klägers stellte sich vor diesem Hintergrund daher als unmittelbare Nachwirkung des Schulbetriebs dar und entspricht dem altersgemäßen Verhalten eines acht Jahre alten Kindes nach Schulschluss.